Das Faultier in mir

“Man bleibt nicht sitzen, weil man faul ist, sondern weil man dumm ist!” – Diesen Satz sagte ich in der Schulzeit gelegentlich zu Mitschüler/innen, die in ihrer Karriere schon einmal sitzen geblieben waren. Dahinter steckte meine feste Überzeugung, dass faule Menschen, die einigermaßen smart sind, viel zu faul wären, um eine “Ehrenrunde zu drehen”. Im nächsten Jahr MUSS man dann lernen und hat ein Schuljahr mit sinnlosem Herumsitzen in der Schule vergeudet. Ein kluges Faultier vermeidet Mehrarbeit und lässt sie nicht bereitwillig zu.
In einem Artikel, den ich am 27.7.2015 in der brandeins las, bestätigte der Autor Wolf Lotter meine These, die ich schon in jungen Jahren aufstellte: “Das Wesen aller Ökonomie besteht darin, menschliche Energie und Zeit einzusparen. Von den einfachsten Werkzeugen und Methoden der Steinzeit bis zum hyperkomplexen Netzwerk von heute ist all unser Streben – paradox, aber wahr – darauf ausgerichtet, dass wir uns eigene Arbeit und Mühe ersparen.”
Dies ist so eine einfache Wahrheit, dass ich mich frage, wieso die Menschen sich so gerne etwas anderes einreden lassen: “Unter den drei Lastern: Faulheit, Feigheit und Falschheit scheint das erste das verächtlichste zu sein”, schrieb Immanuel Kant – harsche Worte, wie ich finde. Ein deutsches Sprichwort lautet: “Der Fleiß bringt Brot und die Faulheit Not.”

faultier jannis (2)                         faultier jannis

Doch wieso ist dieses Faulheits-Tabu so stark ausgeprägt, wieso ist das zu so einer Sünde gemacht worden? Ja, eine Todsünde, die siebte nämlich: Acedia – Faulheit (Feigheit, Ignoranz, Trägheit des Herzens). Selbst Künstler verfallen manchmal einem manisch anmutenden Produktivitätszwang. So soll auch der Dichter Rilke gewesen sein, so beschreibt das zumindest Klaus Modick in seinem Worpswede-Roman “Konzert ohne Dichter”: “… unproduktive Phasen gelten ihm nicht als Erholung oder Entspannung der ständig etwas hoch gestimmten Saiten. Dass es manchmal leere Momente geben muss als Antrieb zum Schaffen, dass sogar Langeweile notwendig ist, damit der Geist sich wieder sammelt und produktiv wird, ist Rilke völlig fremd.”
Mit der Kreativität ist es doch so: du weißt nie, wann sie dich überfällt, wann dir DIE Idee kommt. Manchmal erträumt man Lösungen beim Dösen, manchmal liegt man auf dem Sofa, hört Musik und hat DEN Einfall – selbst beim Surfen auf den sozialen Kanälen kamen mir schon grandiose Ideen. “Faulsein” erzeugt das. Es ist wie ein Loslassen und wenn man loslässt, gibt man seinem Gehirn die Möglichkeit, alles in alle Richtungen zu drehen und zu wenden, zu assoziieren, ohne Druck, ohne Stress, mit Muße einfach. Aber auch das klingt schon recht ökonomisch. Faulsein als Zweck, als Motor für Ideen.
Im Grunde genommen müssen wir noch eine Stufe darunter gehen. Faulsein als Entspannung, als Loslassen von ALLEM. Einfach Nichtstun. Keine Freizeit. Sondern tatsächlich das Nichtstun genießen. Muße ohne Zweck also – und trotzdem sinnvoll. Im Nichtstun sind alle Sinne wach und aufnahmebereit für alles Schöne dieser Welt: Sonnenaufgänge, das Meeresrauschen, das Eichhörnchen, das man stundenlang beim Klettern auf den Baum beobachten kann. Die Gedanken schweifen ab, irgendwohin, und man braucht sie nicht mehr einzufangen. Ich sitze gerne in hübschen Kirchen und genieße die Ruhe. Dafür muss Zeit sein in unserem Alltag, dieses Nichtstun, diese Faulheit verhindert den überall lauernden “Burnout”, vor allem in dieser schnellen Gesellschaft, in der wir leben.
Faulsein heißt auch, nicht dauererreichbar zu sein, nicht alle Nachrichten, alle Telefonanrufe sofort zu beantworten, Faulsein heißt alles abprallen zu lassen, nur bei sich selbst zu sein und bei niemand anderem. Faulsein heißt auch: sich selbst finden, sich selbst Raum geben, sich zu erkennen.
“Nur deine Arbeit darfst du verkaufen, deine Seele nicht.” – Ein Spruch von John Ruskin, der mich an einen anderen Text erinnert, den ich gerade las. Byung-Chul Han schrieb von einem Buch, das die “Müdigkeitsgesellschaft” darstellte, was vor allem in Südkorea einen großen Erfolg hatte: “Offenbar fühlten sich die Koreaner von der Grundthese des Buches betroffen, dass die heutige Leistungsgesellschaft eine Gesellschaft freiwilliger Selbstausbeutung ist, dass die Freiheitsrufe wie „Yes we can“ oder „Ja Du kannst“ in Wirklichkeit etwas Teuflisches an sich haben, dass sie so viele selbstgenerierte Zwänge erzeugen, an denen das Leistungssubjekt zugrunde geht (Burnout).”
In dieser Gesellschaft schlafen schon Kinder kaum mehr als sechs Stunden, gehen zur Nachhilfe nach der Schule, sind kaum noch zuhause. Und wieso das alles? Erwachsene studieren nochmals neben der Arbeit, büffeln, zwingen sich zur Arbeit, versuchen ihre Karriere weiter voranzubringen. Sie hören nicht auf ihren Körper, entziehen ihm Schlaf und Ruhephasen. Die Folge sind psychosomatische Erkrankungen, Unfälle, die aus Übermüdigkeit erfolgen, Selbstmorde. Wozu das alles? Vielleicht sind wir in Deutschland noch nicht so fortgeschritten, was diesen Stress angeht, doch mehr Entschleunigung, weniger Stress, weniger Leistungszwang müssen wir auch hier durchsetzen. Denn wie ich schon eingangs schrieb: der Kapitalismus, die Industrialisierung erfordert das nicht, die Ökonomie besagt ja eher, dass wir uns mit der Zeit immer weniger Arbeit machen müssten. DAS ist ihr Ziel!
Nun bin ich kein Kapitalist und die Ökonomie steht auch nicht an erster Stelle meiner Überlegungen. Ich möchte als Faultier sagen, dass wir nur einmal auf der Welt sind, dass wir nur beschränkte Ressourcen haben – nur einen Körper, nur einen Geist. Diese Ressourcen sind kostbar und wir sollten sie nicht verschenken. Ein anderer Spruch von mir in meiner Schulzeit war: “Warum soll ich mich totschuften, wenn ich morgen von einem Auto überfahren werden könnte? Was hat mir dann der ganze Stress gebracht? Nichts!” Damit möchte ich nicht sagen, dass wir nichts tun sollen, oder davon absehen sollten, viel Arbeit in etwas zu stecken, das es uns wert ist – ich bewundere Menschen wie Albert Schweitzer, der ein Krankenhaus in Lambaréné im zentralafrikanischen Gabun gründete. Ich möchte damit nur sagen, dass wir alle öfter mal ein Faultier sein sollten, um unsere Akkus aufzuladen und zu überlegen, ob das, was wir tun, tatsächlich einen Sinn hat. In diesem Sinne möchte ich die singende Pippi Langstrumpf zitieren: “Faul sein ist wunderschön, denn die Arbeit hat noch Zeit“. Lasst doch mal die Seele baumeln, macht den PC aus, schaltet das Smartphone auf Flugmodus – ihr werdet sehen, dass viel passieren wird. Was? Genau das ist das Spannende am Faulsein …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert