Nils und ich in Edinburgh

In diesem schmalen Treppenhaus lief ich ihm hinterher, Stockwerk um Stockwerk, immer hörbarer schnaufend, die Schuhe vor den Türen betrachtend, die Wäschetrockner mit den bunten Unterhosen von vermutlich achtjährigen Mädchen. Hier würde ich also die nächsten sieben Tage verbringen, bei einem jungen Mann, der halb so alt wie ich ist, einem jungen Mann, den ich kaum kannte. Nils. Er hatte mich vor seinem längeren Aufenthalt in Edinburgh nochmals in Frankfurt besuchen wollen, über das Schreiben reden, Verträge unterschreiben, meinen Rat suchen als Lektor, Mentor und mittlerweile als Freund. Er schaffte es nicht mehr, setzte eine Sprachnachricht auf WhatsApp ab: Sorry, schaffe es nicht mehr zu dir, aber besuch mich doch in Edinburgh – würde mich freuen! Und nun war ich bei ihm in Schottland, bei meinem Nils.

Einst hatte mich eine alte Schulfreundin auf Facebook angeschrieben, der Neffe ihres Mannes schreibe auch und habe gerade seinen ersten Gedichtband beendet, ob sie uns auf Facebook vernetzen könne. Neugierig willigte ich ein. Nils, ein Dichter aus meiner Heimat – das klang spannend, das klang nach einer schönen Bekanntschaft. Wir begannen also zu schreiben. Von unserer gemeinsamen Heimat, von unserer gemeinsamen Leidenschaft, von unserer Sicht auf die Welt, von der Liebe, von Serien, von Musik. Wir schrieben uns nachts und wir kamen uns virtuell schnell ganz nah.

Zur Frankfurter Buchmesse 2015 sahen wir uns dann das erste Mal, er hatte seinen zauberhaften Cousin Felix dabei. Wir trafen uns am Samstagnachmittag, die Jungs hatten als Gastgeschenk einen Rotwein dabei, ich beschloss, dass wir ihn an Ort und Stelle trinken sollten, im Innenhof der Messe, nebenher Pommes und Currywurst essend. Ein guter Einstand. Zwei ganz aufregende Tage mit vielen Erlebnissen folgten.

Beim astiday 2016 in München hatten wir dann unsere erste gemeinsame Lesung, ich moderierte, er beantwortete und las, ein Gedicht sogar in echtem Badisch. Er war charmant, er war witzig – und ziemlich voll. Und für mich war es eine legendäre Lesung, weil ich selten so gut unterhalten wurde. Dem Publikum schien es nicht anders zu ergehen. A new star was born – und ich war live dabei. Das machte mich sehr stolz und glücklich. Dieser erste große Höhepunkt vereinte uns so richtig – wir waren endgültig zu »Family« geworden, auch der zauberhafte Felix war dabei.

Nun also Edinburgh mit Nils, seiner Heimat für knapp zehn Monate – um mal rauszukommen, etwas Neues zu sehen und zu erfahren, schließlich, um etwas zu haben, worüber er schreiben könnte. Zumal er mir erzählte, dass er in der alten Heimat kaum noch schreiben könne. Ihn zog es dafür an ganz andere Orte. Edinburgh schien ein guter Platz zu sein, hier küsste ihn die Muse, er hatte schon einige Seiten seines Romans angefertigt. Nun war ich da, um mit ihm zu reden, um ihn zu inspirieren, um ihm Ratschläge zu geben. Ich hechelte hinter ihm her. Ich sagte: »Tja, ich bin halt ein alter, fetter Bukowski!« Er lachte. Wir tranken viel. Jedoch gingen wir auch sehr viel spazieren. Bis zu 13 Kilometer weit. Wir waren in Portobello am Meer (vielleicht miete ich mich dort irgendwo ein und schreibe mal ein paar Wochen an einem Roman?), wir liefen den Walk of Leith und wir bestiegen Arthur’s seat. Da geriet der alte fette Bukowski allerdings in Panik:


Runter kommt man immer, so sagt man, ja, aber die Frage ist ja wie. Mit dem Helikopter? Notarzt? Oder ... Nun, Höhenangst ist so eine Sache. Als ich »am Abgrund« stand oder vielmehr saß, denn stehen konnte ich keineswegs mehr, auch nicht mehr senkrecht gehen, fragte ich mich auch, wie ich in diese Situation geraten bin. Was würde ich den Menschen sagen, die mich mit dem Helikopter abholen würden? Wie bin ich mit dieser Höhenangst auf die Idee gekommen, auf Arthur's seat zu klettern – und wieso landete ich am gefährlichsten Hang? Meine Höhenangst kommt immer plötzlich. Irgendwas passiert in mir: ich sehe zum Beispiel etwas und dann ist diese Panik plötzlich da. Zuerst wusste ich, dass ich diesen steilen Weg nach oben nicht mehr runter konnte – mich hat schon der Weg nach oben zu viel Überwindung gekostet, ich wusste, dass ich es nicht nach unten schaffen würde. Und dann sah ich jemanden auf diesen Felsen ganz oben rumturnen. Und ich wollte nur noch sterben. Oder zumindest ganz schnell runter von diesem Berg. Daher bat ich Nils den möglichst kürzesten Weg nach unten (und ich meinte gleichzeitig auch den einfachsten) zu suchen. Nur dass er leider einen ziemlich anstrengenden und gefährlichen Weg aussuchte, der zugegeben sicher schnell ans Ziel geführt hätte, wenn ... ja, wenn der Weg für Menschen in Panik nicht zu steil gewesen wäre. Plötzlich konnte ich mich nur noch auf Händen und Füßen bewegen, krabbeln war das einzige, was ich noch hinbekam, wenn überhaupt. Ich machte drei Pausen und blieb einfach sitzen. Nicht einfach. Ich malte mir aus zu stürzen. Ich malte mir aus, wie mich nur noch ein Helikopter da runterholen könnte. Ich sagte Nils, dass ich nicht weiter könne. Konnte ich definitiv auch nicht. Mein junger Weggefährte sprach auf mich ein, sprach mir Mut zu, baute mich auf. Und dann drehte ich mich todesmutig um und versuchte wieder zurück zum Gipfel zu steigen, ohne nach unten zu schauen und mit dem festen Vorsatz, den jungen Mann mit in die Tiefe zu reißen, falls ich stürzen sollte (er war ja hinter mir). Und irgendwie schaffte ich es nach oben. Mit der letzten Kraft. Die nächsten zehn Minuten hechelte ich. Kurz hatte ich Angst vor einem Herzinfarkt. Wirklich. Der Puls wollte nicht runter gehen. Ich hielt es fast nicht mehr aus. Ich setzte mich auf einen Felsen und stand minutenlang nicht mehr auf. Auch in diesem Moment dachte ich: wenn Nils keinen einfachen Weg nach unten findet, bleibe ich hier, bis mich jemand mit dem Helikopter abholt. Minuten später fand er aber einen lockeren Weg und wir konnten gechillt nach unten gehen – wir liefen zwar mindestens drei Kilometer Umweg, aber das war mir egal ...

Dabei hatte alles erst einmal locker begonnen an diesem Tage, der alte, fette Bukowski gab Schreibtipps und fühlte sich sehr weise, Nils fragte und überlegte, wir dachten gemeinsam über seinen Roman nach. Und wieder fragte ich mich, wieso wir nach drei oder vier Begegnungen so vertraut miteinander umgehen, als wären wir schon seit Ewigkeiten Freunde. Wahlverwandte eben, der Nils und ich. So etwas gibt es nicht oft. Eine Woche mit ihm, fast immer zusammen, außer wenn er in sein Kämmerchen ging, um zu schreiben oder zu schlafen, und es gab kein böses Wort zwischen uns, kein Angezicke, kein Rumgenerve, keinen Moment der Fremdheit.

Ich bin so froh, dass meine alte Schulfreundin mich fragte, ob sie mich mit Nils vernetzen könne, so froh, dass meine Freund*innen und Genoss*innen ebenfalls das Talent von Nils erkannten und Lust darauf hatten, mit ihm zwei Mikros zu veröffentlichen. Wir haben einen tollen Autoren und ich habe einen »literarischen Sohn« gefunden, den ich liebe.

 

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