Luzie Wittenberg – Literarische Gastbeiträge

Das Sternengeflüster

Der Abend verging und die Sternenschar schien immer heller zu werden. Es war fast zwölf und Line und Julius fingen etwas zu frösteln an. Der Rotwein tat seine Wirkung und Line schmiegte sich an Julius` Schultern.

»Weißt du eigentlich, wie lange ich auf so einen Abend in totaler Abgelegenheit gewartet habe?«, unterbrach Julius die Stille.

»Hm, ich weiß nicht, Monate, Jahre, sag du’s mir.«

»Das ist absolut wohltuend und verlangt gleichzeitig Kraft ab, sich voll und ganz der Stille hinzugeben!«

»Wie meinst du?«, fragte Line.

»Na ja, man hört alles und nichts. Man ist gezwungen seinen wilden Gedanken zu lauschen und genau hinzuhören. In der Natur kommt man nicht drum rum.«

»Kein Handy, kein bimmelnder Maileingang, keine schreienden Kinder. Einfach nur Ein- und Ausatmen.«

»Du sagst es.«

Julius atmete einmal tief ein. Sein Ausatmen ließ eine kleine weiße Wolke entstehen, die sofort verschwand.

»Du hattest gerade gesagt ‚keine schreienden Kinder‘. Stören dich Kinder, Line?“«, fragte Ju.

»Nein, um Gottes Willen, ich meine, klar, sie können anstrengend sein, aber ich habe nichts gegen sie. Wirklich nicht.«

»Aber du würdest auch keine zwei Stunden mit plärrenden Kindern verbringen, hab ich Recht?«

»Was soll das Gefrage, Ju? Hast du einen geheimen Kinderwunsch, von dem du mir noch nichts erzählst hast?«, fragte Line

»Ich? Nein, ich wollte dich eigentlich fragen, ob DU mal Kinder haben möchtest!«

Line grinste plötzlich und redete schon weiter, als Julius gerade etwas sagen wollte.

»Also! Sagen wir’s so. Für mich ist das ein heikles Thema. Zum einen glaube ich an die große Liebe, mit der ich auch gerne meine Kinder großziehen möchte und andererseits möchte ich auch gerne Karriere machen und wie lange ich das möchte, weiß ich noch nicht.«

»Ich hab es mit einer Idealistin zu tun, ich seh`schon.«

»Ein Haus bauen und ...«, ironisch fügte sie hinzu, »zusammenleben bis das der Tod uns scheidet.«

»Wieso redest du übers Heiraten so verächtlich?«

»Tu ich doch gar nicht. Das nennt man Ironie, Ju!«

»Also Liebe ohne Hochzeit.«

»Ganz genau!«

Julius grinste plötzlich verlegen.

»Weißt du«, sagte Line und richtete sich dabei auf. »Das ganze Gedöns um Heiraten und dieser kirchliche Beschluss, mit Gottes Absegnung den Weg zu beschreiten, das sagt mir einfach nicht zu«, beteuerte Line.

»Aber eine solche Zeremonie festigt doch die Beziehung zum Partner. Man geht ‚durch Dick und Dünn’ zusammen.«

»Nein, eben nicht, Hochzeiten sind zu aufgebauscht, man will den anderen zeigen, dass man zusammengehört: Mann und Frau. Adam und Eva, die Stammeseltern der Menschheit. Klar, es dürfen mittlerweile auch gleichgeschlechtliche Hochzeiten stattfinden, darauf will ich gar nicht hinaus.«

»Auf was denn dann?«

»Ehrlich gesagt ... beängstigt mich der Gedanke ... mich zu binden. Ich kann noch nicht über Heiraten und Kinder kriegen reden, Ju.«

»Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich dachte nur, biologisch gesehen sind wir genau in dem Alter, um uns Gedanken zu machen. Ich verstehe, dass dich das auf eine Art und Weise unter Druck setzt, aber das muss es nicht. Line, Heiraten ist was richtig Schönes.«

»Ist schon gut. Nur habe ich das Gefühl, dass heutzutage alles so kurzlebig ist. Passt was nicht, trennt man sich sofort, und ‚Zack’ liegt der/die Nächste/r neben dir im Bett.«

»Wusstest du, dass je größer dein Bildungsgrad ist, desto mehr Sexpartner hast du. Unterm Strich haben Akademiker fast dreifach so viele Bettgeschichten wie untere Bildungsschichten.«

»Sieh dir nur mal die Studis in Passau an, ich will gar nicht wissen, wer mit wem alles im Bett war.«

Julius und Line lachten beide auf. Line war gerade dabei, sich eine Zigarette zu drehen, als Ju aufstand, um das Kanapee zum umrunden.

»Alles ok, Ju?«

»Ach nix, ich dachte ich hab was gehört. Aber da war nichts ... Alles gut.«

»Vielleicht ein kleiner Luchs, hier gibt es doch bestimmt Tiere, die man nur aus dem Kinderquartett kennt, aber noch nie im realen Leben gesehen hat.«

»Haha, ja da hast du Recht. Sag mal, ist noch was von unserem Cabernet da? Der mundet mir gerade sehr.«

»Ich kenn dich doch, Line, klar!“«

Julius schenkte Line nochmal reichlich ein. Sie würde heute friedlich schlafen, dessen war er sich sicher. Ihr Zelt hatten sie schon aufgeschlagen, nun müssten sie nur rücklings in ihr Naturgemach fallen.

»Ist das Kanapee wirklich safe, es wird doch nicht wegkommen heute Nacht, oder?«

»Nein, Ju, meinst du hier kommt ein riesiger Bär vorbei und zieht damit in den Wald ab?«

Der Abend verging wie im Flug und doch hatten sie sich noch nicht alles erzählt. Line war schon sehr müde und beschwippst, als sie sich endlich entschied ins Bett zu gehen. Sie blickte noch einmal in den Sternenhimmel. Sie fühlte sich keineswegs klein, auch nicht einsam. Sie fühlte sich ganz und gar aufgehoben. Gleich würde sie sich an eine dicke Wolldecke schmiegen und den Tag Revue passieren lassen. Noch einmal an Alaska`s einzigartige Art denken und sich wünschen, sie hätte etwas von ihr. Ju war noch draußen und sammelte die Gläser ein, als Line ihre Zähne putzte. Plötzlich erklang zwischen Baumwimpfelrauschen und der nächtlichen Stille Sam Cooke`s »Wonderful World« und Ju hörte man aus dem Zelt mitsummen.

»Na, hat da wer gute Laune?«, fragte Line Ju, als er das Zelt betrat.

»Ja, schon, wieso?«

»Na ja, nur so hab ich dich noch nie rumsummen gehört. Bist du verliebt? War der Wein zu stark? Hast du zu viel geraucht?«

»Nee, geraucht ganz sicher nicht, obwohl ich vorhin gerne mit meiner imaginären Alaska gewesen wäre.«

»Deine imaginäre Alaska, soso. Love is calling.«

»Ja ich hab tatsächlich Lust, mich mal wieder Hals über Kopf zu verknallen. So richtig.«

»Sich im Regen küssen, sich fetzen, sich lieben, Sex an geheimen Orten? Das volle Programm?«

»Das volle Programm! Was ist mit dir eigentlich? Wieso bist du so abweisend momentan? Dich hat doch immer wer angelacht.«

»Danke, Ju, das klingt als hätte ich vielen hinterhergeguckt und nichts wär jemals passiert.«

»Na ja, so falsch klingt das nicht, aber du missverstehst mich. Du bist Frauen und Männern nicht hinterhergerannt, sondern warst aus dem Nichts eiskalt zu ihnen. Sobald dir etwas zu nahekam oder du drei Mal zu viel mit ihnen geschlafen hast, gab’s nen kalten Kaffee am Morgen. Ich meine kalt im Sinne von ... das verabschiedende Gespräch von der- oder demjenigen ging so lange, bis der Kaffee kalt war. Weißt du, wie wütend mich das gemacht hat?«

»Puh, was soll ich sagen, ja irgendwo hast du Recht. Da war eben nichts Besonderes für mich. Selbst wenn der Sex gut war, konnte ich die halbe Stunde danach noch entspannt mit meiner nächtlichen Errungenschaft quatschen. Danach wurde es mir zu öde.«

»Zu öde?! DU hattest kein Bock, dich zu öffnen, Line. Das war dein verdammtes Problem!«

»Wieso bist du so auf Krawall gebürstet?«

»Line, ich will dir doch nur sagen, dass ich es nicht mehr normal fand, wie vielen du den Laufpass gegeben hast. Du hast der ein oder anderen Person das Herz gebrochen, ohne dir dessen bewusst gewesen zu sein.«

»Mag sein, ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich bin eben so!«

»Bist du nicht! Du bist der aufgeschlossenste und herzlichste Mensch, den ich kenne. Wieso dann immer dieses Katz-Maus-Spiel und nicht mehr?«

»So kommt mir eben keiner zu nah, und ich werd nicht verletzt. Jetzt ist es raus. Ist es das, was du wolltest?«

Line rannten die Tränen über die Wangen. Doch Julius war zu trottelig, um es zu merken und redete weiter.

»Ha also, wusst ich`s doch. Line, die Unnahbare, die unerklärliche Frau, die auf ewig unabhängig ihren Weg gehen will.«

»Weißt du was, du redest ungehobelte Scheiße und verletzt mich. Ich erzähl dir nichts mehr von mir, wenn du nur auf mir rumhacken willst ...«

»Nein, Line, hör mir zu. Ich wollte dich nicht verletzen, aber du musst verstehen, wenn du nie was riskierst, wirst du auch nie das Schönste erleben. Dich durch jemand anderen an deiner Seite kennenzulernen, dich fallen zu lassen, jemandem von ganzem Herzen zu vertrauen, einen Anker haben ...«

»Pass auf, du Liebessamariter, ich erzähl dir eine Geschichte und du darfst mir am Ende sagen, ob sie wahr oder nicht wahr ist.«

»LÜGE ODER NICHT«, rief Ju gen Zeltwand.

Nun, diese Geschichte geht so:

Es war November 2013, als ich Alicia kennenlernte. Ich befand mich in meiner Lieblingsbar in Haidhausen, München. Ich war für eine Woche zu meinen Eltern gefahren, da wir uns schon länger nicht gesehen hatten. Es war eisig, als ich ankam und schon im Zug nach München beschloss, abends etwas im Toni`s trinken zu gehen. Das Toni`s zog alle möglichen Leute an. Verzottelte Musiker, Klischee-BWLer, Ökos oder auch Menschen, die irgendwas mit Medien studierten. Der Laden war leicht verrucht und etwas zu dunkel meiner Meinung nach. Der Tresen stank arg nach Bier. Man hätte sie auch Toni’s Boazn nennen können. Dazu fehlten aber noch ein paar Single Männer um die 50, die allein abends ihr Bier dort tranken. Es war Freitagabend und überall füllten sich die Spielunken und Kneipen.

Ich hatte mich mit Holly verabredet, einer meiner engsten Freundinnen aus dem Kindergarten. Wir kannten uns schon lange und waren uns, egal, wie lange wir uns nicht sahen, einfach sehr vertraut. Es war kurz nach halb 10, als ich das Toni’s betrat und Holly stand schon an der Bar und quatschte mit Toni’s rechter Hand: Albert. Der war um die dreißig und kleidete sich immer schon wie ein Cowboy. Zu einer Jeans trug er einen festen Gürtel mit einem Adler als Emblem. Dazu kombinierte er dunkelbraune Westernstiefel und eine dunkelgraue Weste, die etwas ausgetragen aussah. Trotz Albert’s Art, Menschen erst einmal abzuschrecken, bevor sie ihn kennenlernten, war er unter den Stammbesucherinnen im Toni’s sehr beliebt. Holly bestellte sich ein Bier. Ich tat, ohne zu zögern, das gleiche, nachdem ich sie erstmal fest umarmt hatte. Wir blieben bei Albert sitzen und quasselten über alte Zeiten, unsere Jugendsünden, unsere amourösen Ausrutscher und teilten das Gefühl der Leichtsinnigkeit auf einmal wieder.

Es waren schon zwei Stunden vergangen, als ich die dritte Runde Bier holte. Der Laden war nun voll, das Licht leicht gedimmt, wobei es eh schon sehr dunkel war. Wie immer im Toni’s. Die großen Tischlampen, beleuchteten den Raum mit warmem roten Licht – und so hatte das Toni’s etwas von einem Darkroom. Hin und wieder knutschten ein paar Pärchen herum. Es war allerdings nie zu mehr hier gekommen, in meiner Erinnerung zumindest. Und ich war nicht selten hier. Vor allem an Weihnachten, wenn man alle wiedertreffen wollte, zu Geburtstagen und zu anderen Festigkeiten gingen wir auch ins Toni’s. Es war unser zweites Wohnzimmer, schon seit wir 16 waren. Ich lehnte mich zu Holly rüber, die auf der Ledercouch saß, um ihr gerade etwas zu erzählen, als plötzlich die Tür aufging. Ich redete weiter, bis ich merkte, dass Holly gar nicht zuhörte.

»Holly, was ist los?«

Ich folgte ihrem Blick und sah zum Eingangsbereich. War Chris vielleicht gekommen, Holly’s Exfreund? Ich suchte nach ihm, bis mir keine Sekunde später eine Frau auffiel, die ich versuchte einzuordnen. Ich drehte mich zu Holly um und fragte sie: »Kennen wir diese Frau?« Holly die offensichtlich, wusste wovon ich sprach, meinte sie habe sie noch nie gesehen. »Kennst du sie etwa?« fragte Holly mich nun. »Nein, ich auch nicht«, sagte ich grinsend und wir stießen wenig später zusammen an.

Nun war es halb eins und Holly und ich standen etwas abseits von unseren Freunden in Barnähe. Wir beherrschten das goldene Dreieck im Toni’s ganz gut. Entweder waren wir an der Bar, bei der Couch oder schnell mal auf Toilette. Wir mochten es hier. Ich steuerte gerade Richtung Bar, um Holly und mir noch ein Bier zu holen, als ich in diesem Moment die Frau von vorhin wiedersah. Irgendwie schien ich wie festgetackert dazustehen, denn Albert tippte schon vor mir auf den Tresen.

»Na was kann ich für dich tun, Holly?«, fragte Albert diesmal relativ laut.

»Ach ehm, entschuldige, zwei Helle bitte.«, entgegnete ich.

Ich tappelte zurück zu Holly und war beschämt, dass ich die Frau so angestarrt hatte. Ich wusste nun, genau was sie trug und hätte sie im Profil zeichnen können, so sehr hatte ich sie gemustert. Wie ein kleiner reuevoller Hund stand ich nun mit meinem Bier da und erzählte Holly, was passiert war. Gut, es war nur eine Kleinigkeit, aber es gab nun mal nichts, was ich Holly nicht erzählte. »Sie trägt einen schwarzen Pulli, dazu eine Leo-jacke und einen cognacfarbenen Lippenstift. Sie hat einen Bob und hellbraunes Haar und ich meine, sie hat grüne Augen.« Holly blinzelt mich an: »Und nu?? Findest du sie gut?«

»Schon ja, ich glaube ja, ich glaube sehr.«

Holly schien mich weiter anzusehen.

»Na, dann geh zu ihr und sprich sie an. Was hast du zu verlieren?«

Mein Herz fing an schneller zu pumpen, meine Hände wurden nass und ich wusste nicht, was ich sagen soll.

»Na geh schon, jetzt oder nie«, sagte Holly und lachte.

Für den Rest des Abends war ich in eine andere Welt abgetaucht. Sie hieß Alicia und hatte bernsteinfarbene Augen, in denen man sich verlieren konnte. Ich lud sie auf ein Bier ein und wusste, dass dies mein letztes war. Ich schien hemmungslos zu sein und fragte sie ziemlich direkt, was sie hier mache. Sie schien verwirrt und sagte: »Das gleiche wie du. Die Weihnachtsferien ausklingen lassen. Schließlich hocke ich nicht den ganzen Abend daheim und trinke Brandy mit meinen Eltern.« Nun gut, sie schien selbstbewusst und ich war zuerst verunsichert, aber mit der Zeit zog mich das umso mehr an. Während sie redete, erwischte ich mich wie ich immer wieder auf ihre Lippen schaute. Sie waren wunderschön geschwungen und wenn sie lachte, dann schürzte sie ihren Mund. Ich war wie gefesselt von ihr und wollte, dass das Gespräch nicht endete. Trotzdem merkte ich wie betrunken ich war und sagte ihr ehrlich heraus, dass ich bald gehen würde. Wir verabredeten uns. »10 Uhr nächsten Freitag im Toni’s!«, sagte sie, ehe sie weg war.

»Wie ging es mit Alicia und dir denn aus?«

»Nun, wir führten ca. drei Monate eine sehr intensive und innige Beziehung, bis sie zurück nach Madrid ging, in ihre Heimatstadt. Was sagst du? Ist es eine wahre oder nicht wahre Geschichte?«

»Puh, du fragst Sachen. Ich sag, sie ist wahr.«

»Sie ist kurz und wahr.«

 


Beitragsbild © by Sophia Carvalho

 

 

 

 

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